HARZER ROLLER RÜCKWÄRTS

Nichts ist, was es einmal war. Diese Erkenntnis überkommt nicht nur den ZEIT-Leser, wenn er vergeblich nach meiner wöchentlichen Kolumne sucht. Auch der Harz leidet daran. Früher war er für die Bewohner des Ruhrgebiets, was später Rimini werden sollte: das Ferien-Mekka der arbeitenden Bevölkerung. Denn weiter als von Essen nach Schierke trauten sich die Angestellten der Stahl- und Kohlekonzerne nicht in die Fremde vor. Der deutsche Mensch – besonders die als Volksgenosse be zeichnete Spezies – war nicht so weit gereist, wie wir es heute sind. Weltgewandt wurde man bes ten falls als Flüchtling in der Emigration.

Natürlich gab es Ausnahmen; vom notorischen Drang nach Ita lien einmal abgesehen. Von den Wikingern wissen wir, dass sie sich schon in Urzeiten an Englands Küsten unbeliebt mach ten, und was die Polen von den Touristen aus dem Westen halten, davon wird seit 1410 (Tannenberg) in Warschauer Volksschulen ge sungen.

Der Harz hat einen vergleichsweise sanften Tourismus erlebt. Vor Heines „Harzreise“ gab es nur wenige lokale Events, die in den damaligen Medien Beachtung fanden. Diese bestanden überwiegend aus spinnenden Großmüttern, die ihren staunenden Nachkommen von Hackelbergs Wilden Reitern erzählten, welche in stürmischen Nächten wie eine antike Harley Davidson-Bande durch den Himmel ritten. Oder von der geheimnisvollen Ilse, die an einem Bach namens Bode wohnte. (Nähere Einzelheiten unbekannt, weil ich mich damals noch nicht für geheimnisvolle Mädchen interessierte.) Ja, ich war auch im Harz, mit meiner Mutter, die dort eine Motten schwester hatte, wie sich Sanatoriumsbekanntschaften untereinander nannten. Frau Dönhoff hatte drei oder vier Kinder und eine geflochtene, blonde Schneckenfrisur. Sie waren alle sehr lieb und zeigten mir wie man Pilze und Waldbeeren sammelt. Der Fuchsbandwurm war von BILD noch nicht als Angstmacher entdeckt.  Für den Grusel sorgten die Sagen aus der Umgebung, wie die erwähnte Bande des Herrn Hackelberg.
Es waren schöne Wochen in den dunklen Wäldern des Harz‘. Kein Wunder, dass ich Heines „Harzreise“ sofort las, als ich sie zum ersten Mal in die Finger bekam. Ein heutiger Leser wird erkennen, dass der Autor sie nicht als touristische Empfehlung für die Reisebeilage der ZEIT geschrieben hat. Auch Kafka war im Harz (Juni 1912), und auch er hat es nicht an die große Glocke gehängt. Wie von ihm zu erwarten ist, verbrachte er einige Zeit in einem Erholungsheim. Dass dessen Bewohner splitternackt durchs Haus und die Wälder liefen, vermerkte er mehrfach in seinem Tagebuch. Es schien das Einzige zu sein, was ihm zu notieren wert war.

Mit der Überheblichkeit des modernen Genussreisenden glaubte ich, Besseres zu finden als nackerte Vegetarier und packte die Koffer.

In diesem Moment kam ein Freund vorbei, dessen Beruf aus Reisen in den deutschen Provinzen bestand.

„In den Harz willst du?“, lachte er ungläubig. „Ich glaubte bisher, zur Hungerkur führe man ins Allgäu.“

Ich versuchte zu erklären, dass eine so alte, historische Landschaft immer auch kulinarische Spuren aufweisen könnte, die von der Tradition geprägt und auch nachschmeckbar seien.

„Für die Schmeckbarkeit des Historischen ist die Hygienepolizei zuständig“, spielte er den Zyniker.

Lachhaft! Als wüsste er nicht, dass die schlimmsten Viren aus modernen Labors stammen. Ich verweise auf die 130 Kilometer der längsten Schmalspurbahn Europas, auf die unzähligen Restaurierten Fachwerkfassaden, die prächtigen Rathäuser der Renaissance, die Tropfsteinhöhlen, das Rathaus in Goslar, die anderen Rathäuser als Zeugen der Backsteingotik oder Spät romanik, oder das Schloss von Wernigerode, vor erst 180 Jahren als Erlebnisarchitektur konzipiert wie die Prachtbauten Ludwig II. Das alles, und die unberührte Natur, will ich besichtigen erkläre ich und klopfe auf den Koffer mit den Prospekten.

„Beneidenswert“, höhnt der Skeptiker. „Und was machst du um 16 Uhr, wenn Schlösser, Museen und Rathäuser schließen?“

Davon, das muss ich zugeben, steht nichts in meinen Broschüren und Guides. Die lokale Gastronomie spielt dort überhaupt keine Rolle, gebe ich zu.

„Weil sie nicht existiert“, erklärt er kategorisch und braucht nun nicht mehr lange, um mir meine Harzreise auszureden.

So scheitern aufregende Entdeckungen oft am Kleinmut der Reinredner. Vielleicht wäre ich dem Harzer Spitzenkoch im Schatten des Brocken begegnet; vielleicht hätte sich mein Traum von der idealen Regionalküche an den Ufern der Bode erfüllt.

Nun, es hat nicht sollen sein. Vielleicht ein anderes Mal. Der Schwarzwald ist näher, und dort kenne ich wenigstens ein lohnendes Ziel.

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  1. Andreas Seth |

    Bester Herr Siebeck, nachdem heut das Gespräch auf Tafelspitz und Sie kam wurde mir Ihr seltenes Aufspiel in der Zeit bewußt, was ist mit Ihnen geschehen. Insofern und glückölicherweise meine Suche im Internet und das Auffinden Ihres Blogs. Schön mal wieder etwas vom Kritiker der Dackelpresse zu hören! Fast gleichauf mit Georg Schramm bringen Sie viel Genießbares in unsere Laib-Landschaft.
    Beste Grüsse aus dem Land der Knauzenwecken, Fastenbrezeln und genußreicher Seelen.

    Andi Seth

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