Südtirol

Kurz vor der österreichischen Grenze bei Kufstein haben unsere Feministen noch einmal Gelegenheit, sich lächerlich zu machen. Ein großes Schild am Rand der Autobahn nervt mit lahmer Komik: „Grüß Göttin“, liest man im Vorbeifahren, damit jeder weiß, dass der alte Zausel eigentlich eine Zauseline war. Was angesichts seiner Stellvertreter nicht wirklich überrascht.

Hinterm Brenner reißt die graue Wolkendecke auf, und als wir in Neumarkt die Autostrada verlassen, scheint die Sonne. Nun geht es eine halbe Stunde über unzählige Serpentinen bis auf 1500 Meter Höhe hinauf, bis nach Radein. In der Villa Berghofer“ empfängt uns die Hausherrin Renate Ortner im schicken Dirndl. Wir haben einen Ferienplatz der Extraklasse erreicht. Das Hotel hat keine Zimmer, sondern 14 Appartements. Das garantiert eine sehr private, fast familiäre Atmosphäre, die verstärkt wird durch viele kleine Attraktionen, die ein normales Hotel nicht bieten kann, wie eine Bibliothek, ein Kino im Untergeschoss, keine vorgeschriebenen Plätze in den zahlreichen Esszimmern und –stuben, versteckte Liegeplätze nicht nur am Pool, sondern überall auf dem Grundstück und – das vor allem – eine einmalige Lage auf einem Sonnenplateau vor den Gebirgsketten Südtirols.

Der Sommertourismus laufe auf Rekordkurs, meldet „Dolomiten, das Tageblatt der Südtiroler“. Davon ist hier oben nichts zu merken. Ein weiteres Wunder dieser Oase. Während in Meran und im Vinschgau die Touristen sich gegenseitig die Parkplätze streitig machen, herrscht hier oben die paradiesische Ruhe, deretwegen wir (und Frau Merkel) in Südtirol an den Dolomiten entlang wandern. Was immer fantasiebegabte Kollegen an Lobeshymnen über Südtirol in die Welt setzen, die Superlative, die sie dieser Landschaft widmen, sind nicht übertrieben

In dieser Höhe ist das 19. Jahrhundert noch nicht zu Ende, trotz Flachbildschirm und Internet. Auf den Almen äsen die Hochland­rinder mit ihren eindrucksvollen Hörnern; die Weiden sind bunt, es duftet nach frischem Heu; und die Gaststätten verführen mit deftigen Regionalgerichten zu übermäßiger Kalorienzufuhr. Die Welt der Ampeln und der Hektik ist abgelöst durch rostige Traktoren und inbrünstige Sonntagsgottesdienste.

Die ungewohnte Idylle wird verstärkt durch die Isi-Hütte, die der Wanderer in 2 ½ Stunden mühelos erreicht. Dort kocht eine talentierte Jungköchin, Isolde Daldoss, den ganzen Kanon der alpinen Küche so appetitlich, dass ihr eine bemerkenswerte Karriere unter den lieblichen Hüttenwirtinnen bevorsteht.

In der Küche der Villa Berghofer wartet der Grund meiner Reise, ein gekochtes Mumeltier. Es sind sogar zwei, die einem Sonderab­schuss­plan des Landes Tirol zu Opfer gefallen waren. Wie es der Zufall will, erscheint heute in der ‚Neuen Südtiroler Tageszeitung‘ ein seitenlanger Artikel über die Plage der 40000 Murmeltiere, die den Bauern die Almen zerstören. Da beruhigt unsere Tischgesellschaft, als wir uns unter den Sonnenschirmen der Terrasse versammeln, um die „putzige Plage“ häppchenweise zu elimenieren. Der Küchenchef Massimo Geromel hat sie in ein komplettes Menü verwandelt, von der Murmeltierleberpaté bis zum Mus von der niedlichen Landplage. Dazu zwei herrliche, regionale Rotweine (Blauburgunder Mazzon 2008, Weingut Gottardi und Cabernet- Sauvignon „Lafoa“, Kellerei Schreckbichl 2007). Herr Tiefenthaler, der Bauernobmann und selbst der Biologe und Obmann der Heimatpflegeverbandes hätten uns beifällig zugeprostet, wenn sie uns bei der Dezimierung der fetten Nager zugesehen hätten.

Ihre dicke Fettschicht wird den Murmeltieren schon beim Zerlegen entfernt, denn sie stinkt, sagt man. Früher haben sich die Bauern damit die wunden Knie eingerieben; das Sensen war und ist ein Knochenjob.
Heute muss Renate Ortner bis nach Neumarkt hinunter fahren, um für ihre Gäste in der Apotheke die entsprechenden Wundermittel zu kaufen. Uns verschaffte sie einen Platz auf dem Hauptplatz, wo eine Theatertruppe „Der Parasit“ aufführte, ein Theaterstück von Friederich Schiller, welches uns und über 200 Zuschauern ein großes Vergnügen bereitete. Nicht zuletzt weil man vorher oder nachher in Renzos Bar unter den berühmten Lauben der Stadt gehen und sich stärken konnte.
Dort schließt man sich gern einer für uns ungewohnten Trinkgewohnheit der Italiener an, deren Alltagswein der Gewürztraminer ist. Im Gegensatz zu den fetten Dessertweinen mit hohem Zuckeranteil wie im Elsass, ist er hier schlank und fast trocken, und tatsächlich ein idealer Wein für den schnellen Schluck.

Erst vor wenigen Wochen haben sie unter den Lauben und in den romantischen Gassen der Altstadt ein Weinfest gefeiert, an dem alle wichtigen Winzer des Etschtals teilgenommen haben. Ich nehme mir vor, im nächsten Jahr dabei zu sein. Es muss ja nicht immer Bayreuth sein. Überhaupt bemüht sich jedes Dorf um eine Attraktion für die Fremden. Da es dabei meistens um Essen und Trinken geht, interessiert es nicht nur die Fremden.
Einheimische waren es auch, die mich nach Tisens (Tesimo) schickten, ins Restaurant zum Löwen. Tisens liegt südlich von Meran am Hang oberhalb der Autobahn. Die Hauptstraße des Ortes ist so eng, dass zwei sich begegnende Fahrzeuge dies nur im Schritttempo schaffen. An der schmalsten Stelle liegt das Restaurant „Zum Löwen“.

Hier kocht Anna Matscher, und sie kocht so fantastisch gut, dass ich nach dem Essen die Köchin umarmen musste. Ihr Geheimnis: die Autodidaktin hat von Heinz Winkler gelernt. Das heißt, sie brilliert mit technischen Kunststücken und aromatischen Glanzleistungen, die  sofort vergessen lassen, dass man sich in einem Dorfgasthof befindet.
Welcher übrigens keineswegs primitiv ist, denn ein bekannter Architekt hat durch moderne Versatzstücke aus dem alten Haus ein zurückhaltend elegantes, raffiniertes Ambiente geschaffen. Und so raffiniert ist auch die Küche der Anna Matscher. Ein weiteres beneidenswertes Beispiel dafür, wie kultiviert es zugehen kann, wenn die Trias Talent, Ehrgeiz und Fleiss mit adäqua­tem Design zusammen geht.
Fährt man von Meran nach Nordwesten, nähert man sich unweigerlich dem Land der Bratwurst, der Baustellen und des Vollkornbrotes. Doch da wollte ich noch nicht hin. Also fuhr ich nach Südwesten, bewältigte den Ofenpass, und nach dem Motto: „Nach dem Mittagessen genügt ein Pass“ nahm ich bei Vereina den Autozug und fuhr unter dem Flüela hindurch nach Klosters. Dort gedachte ich eines großen Kochs und liebenswerten Mannes: Beat Bollinger, der in Klosters den „Walserhof“ zu einer meiner Lieblingsherbergen gemacht hatte. Nachträglich bedauerte ich, ihn nicht zu meinem Geburtstag eingeladen zu haben, wie es Prinz Charles tat, der viele Jahre seine Winterferien unter Bollingers Dach verbrachte.
Bei ihm (Beat B.) lernte ich auch die grandiosen Weine der Bündner Herrschaft kennen, die Pinots und Chardonnays von Donatsch und Gantenbein, die fast so rar sind wie der Completer, die in der Umgebung von Malans in kleinen Mengen angebaut werden und außerhalb Graubündens fast unbekannt sind.
Den Chardonnay von Thomas Donatsch hatte ich bald darauf vor mir stehen, nämlich im „Torkel“, dem Restaurant des Fürsten von Liechtenstein, das mitten im Rebberg seines Besitzes steht, und keineswegs so urig ist, wie man sich ein Gartenrestaurant in den Reben von Vaduz vorstellt. Daran hatte auch die Abendsonne ihren Anteil, die alles, worauf sie schien, kostbar vergoldete. Und natürlich die Vorstellung von den riesigen Goldschätzen, die in den Bank­en des Fürstentums gehortet werden.
Im benachbarten Bad Ragaz war der Kapitalismus dann total. Ich hatte ein Zimmer im „Quellenhof“ bestellt, wo ich früher immer wieder mal nächtigte, wenn ich die lokalen Winzer besuchte. Ein unverwechselbares Schweizer Grandhotel alten Stils. Perfekt bis ins Detail, elegant ohne mondän zu sein. Die Gäste waren stets von der Sorte, die sich ohne Krawatte nackt vorkamen; viele zusätzlich mit einem Gehstock ausgestattet. Und alle waren sehr glücklich über die medizinische Abteilung des Quellenhofs, die schon einmalig war, als es Wörter wie SPA noch nicht gab. Die Bad Ragazer sagten früher gerne, dass in ihrem Städtchen so viele Ärzte praktizierten wie in allen Kantonen zusammen.
Diese Situation muss sich drastisch verändert haben, seit ein schweizer Industrieller den Quellenhof gekauft und hat umbauen lassen. Der Eindruck drängte sich auf, dass heute auch sämtliche Kliniken der Schweiz in diesem Gesundheitsanbau untergebracht sind.
Da kein wohlhabender Mensch beim Betreten eines Hotels das Gefühl haben möchte, nun liefere man ihn in ein Sanatorium ein, sieht der Anbau nicht nach Sanatorium aus, sondern wie ein von Albert Speer entworfener Turm für eine Weltausstellung. Selbstverständlich ist alles sehr luxuriös und eine Nummer zu groß.
Die Einheimischen wissen auch bereits, in welchem Gebäude die Russen wohnen, und wo die Araber. Für Leute wie mich gibt es hier nicht einmal Einzelzimmer. Mein Appartement liegt unter der Penthousesuite, deren Preis und die Identität ihres Bewohners nicht einmal die Spatzen von den Dächern pfeifen. Immerhin habe ich eine Dusche, welche keine Knöpfe oder Schalter hatte, sondern nach dem Touch-Screen-System in Betrieb gesetzt wird. Das ist mir neu und zweifellos ein Fortschritt gegenüber den üblichen Misch- und Drehapparaturen, die beim Abbrühen eines geschlachteten Schweins hilfreich sein können.
Auch sonst war meine Suite komfortabel aber ungemütlich mit einem grandiosen Ausblick auf – was sonst – Schweizer Berge. Am nächsten Morgen war ich froh, dass man mir über Nacht nicht eine Herzklappe ersetzt oder mir Botox in die Epidermis gespritzt hatte.
Deshalb fuhr ich ziemlich erleichtert nach Zürich, wo ich ein Hotel der Oberklasse kenne, das auf Wellness im Keller ebenso verzichtet wie auf Russen im Penthouse, es aber an Komfort und Service (Ah, die fabelhafte Mannschaft des Manfred Hörger!) mit jedem anderen Luxusschuppen aufnehmen kann, das „Savoy en Ville am Paradeplatz. Also in der Nähe von gigantischen Goldvorräten und an der praktischsten Straßenbahnhaltestelle des Abendlandes gelegen.
Von so viel Glanz und Gold geblendet, ließ ich den alten Kombi zum letzten Mal beladen und verzichtete auf das Navi. Den Weg nach Hause findet ein Esel von allein.

Fotos: Barbara Siebeck

 

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