Glion

Ekka Schulze ist tot. Sie war mit mir in Bochum zur Schule gegangen. Also eine wirklich alte Bekannte. In der Schweiz, wo sie unter dem Namen Dr. Erika Billeter lebte und arbeitete, war sie eine renommierte Direktorin wichtiger Museen.

In ihrem Testament hatte sie verfügt, dass Toni Mittermair ihren besten Freunden ein festliches Abendessen in seinem Haus herrichten möge.

Sein Haus ist das Hotel Victoria in Glion, hoch oben am Hang über Montreux am Genfer See. Es ist ein Juwel unter den Hotels an der Kapitalistenküste und gehört zu meinen Lieblingsherbergen. Denn es ist im Alleinbesitz eines Superwirts, eben des Tonis Mittermair, der das Haus nach seinem Geschmack einrichtete, was zur Folge hat, dass es  im Guide Michelin als „besonders angenehm“ aufgeführt und fast immer ausgebucht ist. Zu seinen Gäste gehören Leute, wie jener Mann, den ich beobachtete, wie er eine Stunde vor dem Kamin saß und seine Kontoauszüge verbrannte. Mithin die üblichen Vorstandsmitglieder und Hauptaktionäre sowie Leute, die mitsamt ihrer Großfamilie im Victoria wohnen, weil sie schon mit ihren Großeltern hier ihre Sommerferien verbracht haben. Neben größter Diskretion erwarten sie vor allem Ruhe und Ordnung. Rechnen wir noch die sensationelle Lage über dem See hinzu (300 Meter tiefer hat Nabokov im Hotel Montreux Palace seinen Lebensabend verbracht) sowie eine klassische Küche ohne Experimente, hat man alle Details zusammen, welche Schweizer Grand-Hotels schon immer auszeichneten. Zusätzlich enthält das Victoria eine kaum überschaubare Sammlung kurioser Antiquitäten und Krimskrams vom ausgehenden Rokoko bis zum Jugendstil – nicht nur in der kuriosen Halle, sondern verteilt über das ganze Haus. Mit diesem fabelhaften Hotel in der Nachbarschaft hatte Erika Billeter gelebt.

Die Fahrt nach Montreux gehört erfahrungsgemäß zu den kurzweiligen in der Schweiz. Zwei Baustellen und eine abwechslungsreiche Landschaft, den Rest regelt der Tempomat.

Weniger harmlos scheint es mir, ein oder zwei Dutzend sogenannte Freunde, die sich zum Teil überhaupt nicht kennen, zu einem Festessen einzuladen. Das ist für diese so riskant, wie ein Über raschungsmenü von einem unbekannten Küchenchef für den Gast. Man darf nicht aussuchen, was man essen will, und ist von der Laune eines Unbekannten abhängig. Was die Küche des „Victoria“ angeht, so hatte ich keine Bedenken. Toni kennt mich seit vielen Jahren, er wird seinen Chef vorgewarnt haben. Aber neben wem werde ich sitzen? Mit wem muss ich über seinen Sohn in Amerika reden? Oder den Stimmbruch des Hundes? Zur Finanzkrise habe ich wenig zu sagen, und…. „Pardon, wie viel Euro, sagten Sie, hat das Bild bei Christies gebracht?“….und an der Kunstszene interessieren mich die spektakulären Fälschungen mehr als Frieda Kahlo. Außerdem werden die meisten Schweizer Mundart sprechen. Damit ist für mich der Abend gelaufen.

Wir kamen etwas zu spät, weil mir bei der Ausfahrt Montreux ein Trottel gegen die hintere Stoßstange bumste. Er war ein Saisonarbeiter aus Spanien, hatte keine Versicherungskarte und wahrscheinlich nicht einmal einen Führerschein. Hätte es nicht ein Milliardär sein können, die hier fast unter sich sind?

Die anderen „alten Freunde“standen bereits mit dem Glas in der Hand um einen riesigen, hoch beladenen Büffettisch herum. Tatsächlich kannte ich nur eine Oma, mit der ich vor langer Zeit einmal befreundet war. Aber Mundart sprach niemand, denn es waren fast alles Auslandsdeutsche, die hier am Genfer See Immobilien besaßen, bzw. die Witwen von Auslandsdeutschen, welche aber auch echte Schweizer gewesen sein konnten, was man einer Witwe bekanntlich nicht einmal am Wert ihrer Perlen ansieht.

Schließlich tauchte das liebe Gesicht des Oberkellners vor mir auf. Er reichte mir ein leeres Glas und zeigte mir augenzwinkernd eine Flasche. Ich erschauerte. Es war ein Haida 2006 vom Cave de l’Angelus. Mein Lieblingswein des Wallis‘.

Damit war der Abend für mich gerettet. Immer wenn man Glas fast leer war, tauchte der Gute Mensch von Glion vor mir auf und füllte nach. Ich dachte noch: Wie leicht ist es doch, einen Menschen glücklich zu machen. Und wie wenige Menschen versuchen es.

Ich betrank mich systematisch und wachte am anderen Morgen ohne jegliche Nachwirkungen aus. Zum Frühstück auf der Terrasse am Park mit seinen uralten Bäumen aß ich ein Bircher-Benner Müsli und fuhr unter strikter Beachtung der Geschwindigkeitsbegrenzung bis zur Raststätte Gruyère, wie ich das immer mache, wenn ich auf dem Heimweg bin. Dort haben Sie einen Verkaufsstand mit dem feinsten Hartkäse der Schweiz, eben den Gruyère. Als Mitbringsel aus der Schweiz ist er fast so beliebt wie eine Swatch.

Rechtzeitig zur Mittagszeit erreichen wir Freiburg und benutzen die Gelegenheit, vor einem weiteren meiner Lieblingshotels zu parken, dem „Colombi“. Es ist Sonntag und der heißeste Tag des Jahres. Da haben nur Ausflugslokale an Seen geöffnet und – das als ‚Zirbelstube‘ bekannte Restaurant des Colombis. Roland Burtsche steht in der Halle und wundert sich, dass bei diesem Wetter jemand ins Haus will. Aber ins Colombi gehe ich bei jedem Wetter gern; denn es ist eine Oase der Esskultur und ein Mustergültiges Stadthotel. Das liegt wieder am Status ‚Privathotel‘, also an der Persönlichkeit des Besitzers. Dass er sogar am Sonntag im Haus ist und nach dem Rechten guckt, ist typisch für Roland Burtsche. Dieses Pflichtbewusstsein hat seinem Haus auch die Mitgliedschaft in „Leading Hotels of the World“ eingebracht, die wohl feinste Vereinigung renommierter Hotels.

Heute verzeichnet eine Sonderkarte Steinpilze und Kaiserlinge (Amanita caesarea) Letztere haben eine große Ähnlichkeit mit dem Boletus edolis, sind hingegen etwas fester (vielleicht waren sie aber auch nur kürzer gegart). Es gibt sie angeblich nur drei Wochen im Jahr, erfahre ich.

Mein Teller enthält außerdem hochstapelnde Spaghetti, die sich Linguine nennen, und obendrauf geraspelte Sommertrüffel, deren Visitenkarte man auch nicht trauen darf. Trüffel in Verbindung mit irgend etwas, das ist wie die Buchstaben „Dr.“ vor einem Namen. Ist immer eindrucksvoll, kann aber auch gefälscht und ergaunert sein, und deshalb furchtbar enttäuschend. Vor allem die ‚Sommertrüffel‘ genannte chinesische Importware dient nur der Dekoration. Man erkennt sie daran, dass sie auf den Speisekarten nicht teuerer sind als trüffellose Gerichte.

Toni Mittermaier (Hotel Victoria) &Wolfram Siebeck

Hotel Victoria, Glion / Schweiz

Linguine mit Sommertrüffel

 

Fotos: Barbara Siebeck

Hotel Victoria, Glion

Hotel Colombi, Freiburg

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