ROHFISCH VOR MUMIEN

Frau HoffmannOhne Neugier gibt es keinen Genuss. Das bedeutet, um eine angeblich delikate Mahlzeit zu erleben, unternimmt der Genießer lange Reisen. Einige werden sich erinnern: Vor zirka zwanzig Jahren fuhr ich speziell nach Flandern, weil mir gesagt wurde, es stünden dort in einer Dorfkneipe Ratten auf der Speisekarte. Ich fuhr sofort hin und stellte fest: es waren Bisamratten, und sie schmeckten nicht schlecht. Jetzt war ich einige Tage in Amsterdam, weil die jungen, fetten Heringe, die bei uns Matjes genannt werden, Saison haben. Ich rede hier von nicht eingefrorenen Heringen; denn angeblich dürfen sie bei uns nur tiefgefroren eingeführt werden. Bei den irrationalen Brüsseler Vorschriften, muss man das glauben. Und wer es glaubt, muss sich sagen, dass er hierzulande nur Matjes aß, die schon einmal eingefroren waren. Also nicht solche, welche sich die Holländer auf der Straße genussvoll in den Mund schieben.

Ich bin ein bekennender Liebhaber der Jungheringe, und die Vorstellung, jenseits der Grenze würden sie in besserer, optimaler Qualität angeboten, ließ mir keine Ruhe. Also fuhr ich mit der Bahn nach Amsterdam.

Dort irrte ich zunächst lange durch die Grachten, sah aber keine Matjes schluckende Holländer. Ich sah viele Menschen und die meisten saßen auf Fahrrädern. Dass man während des Fahrens keine Matjes essen kann, leuchtete mir ein. Dafür telefonierten die Eingeborenen wie verrückt. Danach ketteten sie ihre Räder an irgend welche eisernen Geländer und zwar mit einer Sorgfalt, die ich ihnen beim Verzehr der Jungheringe zugetraut hätte. Aber wie es schien, hatte ich die Bedeutung der frischen Matjes für niederländische Feinschmecker überschätzt. Insgesamt fand ich in der Innenstadt drei kleine Buden, wo Fettfische zu kaufen waren. Die Buden waren so gastlich wie unsere Currywurststände, die Fische aber längst nicht so populär. Meine Frage an den Fischhändler, ob er sich die Matjes auch tiefgefroren vorstellen könnte, blieb wegen Sprachschwierigkeiten unbeantwortet.

Ungeklärt blieb auch eine andere Beobachtung, die ich bei dieser Gelegenheit machte. Sie betraf die angeketteten Fahrräder. Bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass es uralte Mumien waren, die in Freiburg kein Fahrraddieb eines Blickes würdigen würde.

So stieg ich sinnend wieder in den ICE nach Frankfurt und dachte über die Transportmittel eines Volkes von Rohfisch­essern nach, sowie über seine scheinbare Bedürfnislosigkeit gegenüber dem Fahr- und Sitzkomfort im Straßenverkehr.

Eine knappe Stunde später wurde ich jäh an unsere Bedürfnislosigkeit im Schienenverkehr gemahnt: Ein Beamter der Bundesbahn durchwanderte unseren Zug und verkündete, dass dieser deutsche ICE nicht die heimatliche Grenze überfahren dürfe. Deshalb müssten alle Passagiere in Emmerich den Zug wechseln. Es würde nur eine Verspätung von 20 Minuten bedeuten. Es wurden dann 40 Minuten, und ich fragte mich, welches Land wohl wegen welchem Whistleblower unsere Weiterfahrt blockiert hatte. Aber es war schlicht nur ein für unsere Bahn gewöhnlicher Chaostag, wie sich herausstellte, als wir mit hunderten anderer Kofferrollern in Frankfurt ratlos und wütend die Bahnsteige entlang hechelten. Egal woher sie kamen und wohin sie wollten, mindestens 40 Minuten Verspätung hatten sie alle. Daher die Wut. Ratlos waren sie, weil wie üblich niemand Auskunft geben konnte; sogar die Zuganzeige von Bahnsteig 6 war außer Betrieb, weil kaputt.

Wir kamen mit drei Stunden Verspätung zu Hause an.

4 Comments | Hinterlasse einen Kommentar

  1. Niels |

    Anisakis simplex: 3 verschieden Fadenwürmer rufen Krankheitsbild der Anisakis hervor: Pseudoterranova decipiens, Anisakis simplex und Contracaecum. Übertragung über orale Aufnahme der Larven über rohen oder ungenügend erhitzten Fisch. Typische Ansteckungsquellen sind Sushi, Sashimi und Matjes-Heringe. Symptomatik: Nach einer Stunde bis 5 Tagen nach dem Verzehr des larvenhaltigen Fisches heftige Bauchschmerzen, Schwindelgefühle, Erbrechen und zum Teil heftige Diarrhoen. Ist nur der Oesophagus befallen, werden die Larven oftmals ausgehustet und lassen sich dann im Sputum finden. Gewichtsverluste, Appetitlosigkeit, Schwächegefühl sowie intermittierende Durchfälle. Beschwerden bestehen in den meisten Fällen während der Lebenszeit der Würmer über 3 Wochen. Komplikation: Granulumbildung. Behandlung: am erfolgversprechensten ist die chirurgische sowie endoskopische Entfernung der Larven. Prophylaxe: Vermeidung des Verzehrs von rohem Fisch, sofern dieser nicht mindestens 24 Stunden bei -20°C eingefroren war. Guten Appetit

  2. Schorsch |

    Muss denn nicht jeder Hering bei minus 45° Celsius schockgefrostet werden um den Heringswurm (Anisakis simplex) abzutöten?

    • Christian Bartoschek |

      Salzlake statt Schockfrosten täte es wohl ebenso:

      „Temperaturen über 60 °C oder unter −20 °C überlebt der Erreger nicht. Eine Infektion lässt sich vermeiden, wenn der rohe Fisch eine Zeit lang schockgefroren oder in Salzlake eingelegt wird. Heringe müssen heute vor einer Weiterverarbeitung tiefgefroren werden.“

      (Zitat aus: http://de.wikipedia.org/wiki/Anisakiasis )

  3. Dirk Esser |

    Lieber Herr Siebeck, kennen Sie die 4 größten Herausforderungen der Bahn?

    Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter 😉

    In Glückstadt gibt es Mitte Juni die Glückstädter Matjeswochen, vom 12. bis 15. Juni 2014

    Jedes Jahr, am zweiten Donnerstag im Juni, werden die „Glückstädter Matjeswochen“mit der traditionellen Matjesprobe und einer viertägigen Eröffnungsveranstaltung eingeläutet. 1968 begonnen, wird diese Tradition bis heute fortgesetzt. Im Mittelpunkt steht ein kleiner Silberling – der Original Glückstädter Matjes. Bis heute wird er nach traditionellem Rezept in reiner Handarbeit hergestellt. Er hat nicht nur die Herzen der Glückstädter erobert, sondern vieler Feinschmecker in ganz Deutschland und darüber hinaus. Hunderte Menschen warten gespannt auf dem historischen Marktplatz, dass das schwere Holzfass geöffnet wird, und die geladene Prominenz in den ersten Matjes der Saison beißt. Ein kurzes Kauen, ein prüfendes Schmecken und mit Sicherheit heißt es wieder: „Ausgezeichnet“.

    Aber ob die dann vorher tiefgefroren waren, steht da aber auch nicht.

    Beste Grüße

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