GESCHÜTTELT, NICHT GERÜHRT

Frau HoffmannSoweit ist man in Berlin tatsächlich fortgeschritten, dass man zu Fuß von einem Restaurant zum anderen wandern kann, ohne die Kirmesgastronomie eines Blickes zu würdigen. Nur 1 km vom Swiss­ôtel entfernt am Kurfürstendamm hat Roland Mary ein neues Etablissement eröffnet, das „Grosz“, nach dem Zeichner George Grosz benannt, um beim vermuteten ‚Aufschwung West‘ dabei zu sein, das heißt, wenn sein Borchardt und das Regierungsviertel langsam veröden, was nach den Prophezeiungen konservativer Cocktailtrinker sehr bald bevorsteht. Dazu müsste allerdings vieles neu gestrichen werden. Diese Forderung Kippenbergers hatte Mary offensichtlich im Sinn – obwohl der Künstler ein Stammgast in der konkurrierenden Paris-Bar war – und in seinem neuen Lokal die alte Pracht wiederbelebt.

Die hohen Räume mit den vergoldeten Säulen am Eingang erinnern denn auch an Moskauer Zuckerbäckerstil, als der noch Mode war. Im vorderen Teil, dem Tagescafé geht es etwas eng zu und herrscht die von Kosmetik Models geschätzte Dunkelheit, hinten aber, wo die Tische weiß eingedeckt sind, ist es hell genug, dass man die untertassengroßen Armbanduhren der Gäste am Nebentisch mühelos ablesen kann. Sehr praktisch.

An der Speisekarte fällt sofort ins Auge, dass im Grosz das Wiener Schnitzel fehlt, welches in Marys Promi-Brasserie, dem Borchardt, einen völlig ungerechtfertigt guten Ruf genießt. Vielleicht hat das auch der Wirt gemerkt. Im Grosz stehen dafür sechs schöne Austern für nur 14 Euro auf der Karte, und ein Teller Tempura für 18, in dem u.a. drei Jakobsmuscheln durch ihre Frische und Zartheit einen guten Eindruck machen, was man von den offenen Weinen leider nicht sagen kann.

Wein gab es dann genug und in besserer Qualität beim Abschlussball des „eat!Berlin“-Festivals für 400 Personen im Hotel Ellington, das von den fachkundigen Teilnehmern einhellig als sehr gelungen eingestuft wurde. Sie feierten fröhlich, weil Essen das Einzige ist, das man in Berlin feiern kann, auch wenn die Stadt nicht neu gestrichen wird, Flugplätze nicht fertig werden, und die Biennale bereits vergessen ist, bevor Koslick den roten Teppich eingerollt hat.

Ich verließ die Metropole mit der Bundesbahn, was mir Gelegenheit gab, im Speisewagen den Empfehlungen eines Fratzen schneidenden Kinderanimators zu folgen, der von der Bahn als Koch vorgestellt wurde und angeblich eine vorzügliche Bio-Hühnersuppe für 9,90 € hergestellt hatte. (Barbara: „Mein Spülwasser schmeckt besser“.)

Tatsächlich entsprach sie den anderen Glanzlichtern der Bun­desbahn, den verstopften Toiletten und verkrüppelten Klimaanlagen, welche die Bahn seit Jahren einsetzt, um mit der bestreikten Lufthansa konkurrieren zu können. Immerhin gab sich der Lokführer erfolgreiche Mühe, eine 20-minütige Verspätung auf der Schüttel- und Rumpelstrecke in den Süd­­­westen wieder aufzuholen.

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