HAMBURG IM WINTER

Und war ich mal wieder in Hamburg, in dieser schönen Stadt, die zur Abschreckung ihr typisches Schmuddelwetter aufgelegt hatte. Was die Bundesbahn aber nicht hinderte, mit fast einer halben Stunde Verspätung den Hauptbahnhof zu erreichen. Schon im Zug hatte sie ihre erste Abschreckungsmaßnahme auf mich losgelassen. Mich reizte das kulinarische Angebot der Bahn. Jeder hat davon gehört: Von Zeit zu Zeit werden Spitzenköche engagiert, die auf einigen ICE-Zügen ein Feinschmecker-Menü servieren lassen. Trotz enttäuschender Erfahrungen wollte ich noch einmal ein vorgekochtes und aufgewärmtes Meistermenü probieren. Aber kaum hatte ich die gesammelten Tageskommen­tare zum Fall Suhrkamp gelesen, da wurde einem Fahrgast in meiner Nähe ein warmes Essen an seinen Platz gebracht. Das verbreitete einen so widerlichen Gestank von in Maggi ertränkter Küchenkonfektion, dass mir der Appetit schlagartig verging. Früher wäre das ein Fall für die Notbremse gewesen, aber dieses praktische Zubehör haben sie schon lange abgeschafft. Woraus zu schließen ist, dass Bahnrei­sende anspruchsloser geworden sind.

In Hamburg wohne ich fast immer im Hyatt-Hotel, dort sind die Zimmer geräumig und die Menschen freundlich. Außerdem haben sie Staudt’s Konfitüren zum Frühstück. Das wurde angereichert durch ein gemüsiges Grün im Müsli. Irgendein zähes Gras war in den Brei gemischt, könnte klein geschnittener Rucola gewesen sein. Ein vegetarischer Gruß aus der Küche?

Über Vegetarier wird viel geredet. Sie sind bei uns häufiger vertreten als in anderen Ländern. „Sind Vegetarier ethisch, spirituell oder gesundheitlich motiviert?“, fragt die FAZ von heute, und sind sie „übergewissenhaft? Neigen sie zum Grübeln?“

Tja, wenn man das wüsste.

Aber nicht einmal über Nichtvegetarier wissen wir mehr, obwohl sie neunzig Prozent der Bevölkerung ausmachen. Eine dieser Fragen kann ich beantworten: Ja, wir Fleischesser neigen zum Grübeln. Ob wir es mit einem Kaninchen zu tun haben oder mit einer geschmorten Katze, das kann einen ganz schön lange beschäftigen. Und was unsere Motivation angeht, so hat die zweifellos etwas mit unserem Appetit auf Katz oder Kaninchen zu tun. (Nähere Anweisungen für die Zubereitung des einen oder der anderen finden Sie in der Oster­woche.)

In Hamburg trafen wir zum Abendessen 600 Kollegen von der ZEIT, die sich zu einem weihnachtlichen Pow Wow in der Spei­cher­stadt im alten Zollamt trafen. Es war ein buntes Durcheinander, das die Zweiteilung unserer Gesellschaft Lügen strafte, wenn man davon absieht, dass einige Ressorts dem Verleger Gewinne bringen, während andere ihm den Sekt wegtrinken.

Zum Mittagessen kamen Haug und Gemahlin ins Hotel, wo wir zwei angenehme Stunden damit verbrachten, preiswerte Menüs zu essen und eine Flasche Chardonnay von Fetzer zu trinken, welche zwar einen Preis hatte, der es an Wert jedoch fehlte.

Dennoch sitzt man im Hyatt so angenehm, dass ich mich seit Jahren wundere, warum es hier, nur wenige Schritte vom Presse­haus entfernt, nicht einen ständigen Journalistenstammtisch gab wie im sagenhaften Algonquin. Aber dazu werden unsere Journalisten zu schlecht bezahlt, und Hamburg ist nicht New York.

Für diese Erkenntnis genügt ein Blick in den Michelin. Was sehen wir? Nichts von Bedeutung. Ein Drei-Sterne-Restaurant ist weit und breit nicht in Sicht. So blieb uns fürs Abendessen das „Haerlin“ im Hotel Vier Jahreszeiten. Zwei ziemlich neue Sterne und ein sehr kon­servatives Ambiente. Also die richtige Adresse, um die in dicke Mäntel gehüllten Gäste der Max-Planck-Gesellschaft (von denen nicht einer zu Fuß gekommen war) anzulocken. Die Tafel für diese Elite war in einem engen Nebenraum gedeckt.

Um ins Haerlin zu gelangen, muss man den in der Hotelhalle aufgebauten Weihnachtswald durchqueren, dessen kitschiger Overkill auf den Geschmack dreijähriger Kinder zugeschnitten ein mag, welche allerdings unter den Gästen des ehrwürdigen Hauses eine sehr kleine Minderheit darstellen. Es kann sein, dass man mir beim Be­tre­ten des Speisesaals die Tannennadeln vom Jackett und das Lametta aus dem Bart bürstete, denn der Service ist exzellent. Beim Verlassen der gastlichen Stätte soll man mich sogar gestützt haben. In diesen Genuss kamen schon Gäste vor mir. So lässt sich im Sinne der Hamburger befriedigt konstatieren: es ist alles beim Alten geblieben.

Nur die dort praktizierte 2-Sterne-Küche ist eindeutig modernisiert. Man erkennt es daran, dass sie das in der Halle praktizierte Prinzip des Overkills übernimmt und Buntes als Vielfalt ausgibt, so dass alle Teller aussahen, wie vom Nikolaus gefüllt. Lustig, lustig, fürwahr.

Ein moderner Küchenchef, wie der hier löffelführende Christoph Rüffer, kennt natürlich die Gefahren, die einem penibel auf Einzelheiten achtenden Esser durch das verwirrende Angebot drohen: Jeder neue Gang löscht die Erinnerung an den vorausgegangenen

sofort aus. Deshalb steckt der Kellner neben jeden neuen Teller ein Kärtchen in einen Kärtchenhalter, auf dem im Einzelnen beschrieben steht, was das ist, das der Gast sich anschickt herunterzu­schlucken.

Es kann alles Mögliche sein, wie er liest; dabei darf er die Kärtchen natürlich nicht durcheinander bringen, was bei einem größeren Menü durchaus möglich ist, wie jeder weiß, der seinen Tanten beim weihnachtlichen Rommee zugesehen hat. Auf dem Kartenspiel, das ich am nächsten Morgen in der Tasche fand, hatte ich ein Karte markiert, die der „Jakobsmuschel mit warmem Ochsenmark Erdknollen & Zitrone“ gewidmet war. Sie erinnerte mich daran, dass dabei

1) Jakobsmuschel in Rapsöl gegart, 2) Topinambur sautiert & als Crème, 3) rote Emmakartoffel & Rapsölvinaigrette, 4) warmes Ochsenmark mit Salzblume, 5) säuerlich eingelegte Schalotte, 6) Zitronenengel & junger Rettich, 7) Prunier Kaviar „Tradition“, 8) knusperiger Amaranth

als einer von vielen Gängen auf meinem Teller gelegen hatte und mir den Wohlgeschmack des langen 2-Stern-Menüs nahe brachte. Ohne diese Information hätte ich nicht einmal gewusst, auf wie hohem Niveau ich den Abend verbrachte habe. Das bestätigte eine andere Karte, welche mich an

1) Wolfsbarsch in Zitronenaromen gebeizt, 2) Marinierte Senf- & Salatgurke, 3) Kefirschaum mit Dillöl, 4) Eingelegter Ingwer,
5)Pumpernickelcrème & Rosa Pfeffer, 6) Bronzefenchel & Austern­blätter, 7) Gelierter Ingwertee, 8) Pumpernickelcrumble,
9) Radieschen

erinnerte. Zwar habe ich mir den Kopf zerbrochen, was ich als Hobbykoch unter Austernblätter zu verstehen habe, aber das störte den Genuss keineswegs, als ich nur wenige Stunden nach meinem vegetarischen Müsli in Cornelia Polettos neuem Lokal saß (Eppendorfer Landstraße 80) und ein halbes Dutzend Austern ohne Blätter aß. Ihr Laden ist allerliebst und eng wie ein Bistro, aber die Küche zeigt ihre große Professionalität, ob bei der Ente mit Rotkohl oder dem heiß geräucherten Lachs, den man sich in der gemütlichen Eckkneipe auch einpacken lassen kann, um gegen die bevorstehenden Abschreckungsmaßnahmen der Bundesbahnküche gewappnet zu sein. Dank der modernen Schraubverschlüsse kann man auch mühelos von der fulminanten Weinauswahl bei Cornelia Poletto profitieren, womit sich sogar ein dreimaliges Umsteigen fast ertragen lässt.

Schreibe einen Kommentar