BERNER LECKEREI 2

Berns aufregendste Gastronomie befindet sich in einem merkwürdi­gen Gebäude. Es heißt Hotel Kursaal, ist riesig und sieht aus wie ein Erholungsheim für Gewerkschaftsmitglieder. Auch wenn man unten einen Lift zum „Restaurant Meridiano“ gefunden hat, wel­ches sich im 6. Stock auf dem Dach befindet, bedeutet das noch lange nicht, dass man den Gipfel erreicht hätte. Wegen Um­­bauar­beiten mussten wir die Strecke vom 5. bis zum 6. Stockwerk zu Fuß zurücklegen, was sich einfacher anhört, als es war. Denn es ver­langte einen Umweg über die Eigernordwand und das Mat­ter­horn, wie mir schien. Außerdem besitzt das Restaurant Meridiana den Charme einer, nun ja, Gewerkschaftskantine.

Wir hatten das Glück, an einem sonnigen Tag von unserem Tisch gleichzeitig die Alpen des Berner Oberlands sehen zu können, so­wie das komplette Ensemble der zum Weltkulturerbe ernannten, entzückenden Berner Altstadt. Insofern beglückwünschten wir uns zu der gelungenen Ouvertüre. Doch dann begann das Theater.

Wir wurden gebeten, eine Hand flach auf den Tisch zu legen. Mit einem heißen Waschlappen, wie ihn die Japaner serienmäßig in ihre Hondas und Toyotas einbauen, reinigten wir sodann eine Stelle des Handrückens. Jetzt trat der Restaurantdirektor in Aktion. Er be­strich die gesäuberte Stelle mit einem grünen Mus. Darauf platzier­te er mit einer Pinzette ein winziges, dünnes, weißes Quadrat, wel­ches entweder aus dem Aquarium stammte oder vom Gärtner. Auch die Herkunft der danach folgenden braunen, runden Scheibe in Linsengröße blieb zunächst im Dunkeln. Der junge Herr im dunk­len Abzug arbeitete jedenfalls mit der Präzision eines Budapester Zahnarztes und türmte Stockwerk auf Stockwerk, bis wir jeder ei­n buntes Türmchen von 1 bis 2 Zentimeter Höhe auf der Hand ba­lan­cierten. Das war der Gruß aus der Küche.

Wir wurden aufgefordert, dieses Nano-Kunstwerk aufzulecken.

Das war der Kreuzweg, an dem ich mich zu entscheiden hatte. Entweder mit der Serviette abwischen oder auflecken. Entweder das Lokal mit einer wortlosen Geste an die Stirn verlassen, oder der Gebrauchsanweisung folgen.

Wahrscheinlich belauerte mich in diesem Moment der komplette Service mit ange­haltenem Atem. Würde Siebeck, der immer wieder gegen den Ori­ginalitätsfimmel der avantgardistischen Köche ge­wet­­tert hatte, würde er einen Wutanfall kriegen, oder auflecken, was die Moderne Küche ihm da zumutete?

Ich leckte.

Verhaltensforscher, diese Maulwürfe im Unterbewussten, würden wahr­­scheinlich nach langem Grübeln erklären können, warum ich das tat. Vielleicht wollte ich den Aufstieg in den 6. Stock die­ses merkwürdigen Hauses nicht umsonst gemacht haben. Vielleicht war es ein erster Blick in die vorzügliche Weinkarte, der mich zum Bleiben bewog. Wahrscheinlich war es nur die professionelle Neu­gier, die meiner Zunge den Befehl gab, nicht zurückzuschrecken.

Also leckte ich meinen Handrücken sauber, registrierte, was sich in meinem Mund abspielte und kam zu der Erkenntnis: es schmeckt himmlisch!

Natürlich fiel mir sofort das Argument ein, mit der ein Pizzafreund reagieren würde: Hamses nich ne Nummer größer?

Diese ‚Nummer Größer‘ stellte ich mir vor: es funktionierte nicht. Unmöglich, dieses subtile Aroma in größerem Maßstab zu wieder­ho­len; es wäre eine unverzeihliche Vergröberung. Ein zweiter Lutsch­turm, und der überraschende Geschmack von Limone, Zwie­bel, Obst, Rauchton, Wasabi, und weiss der Teufel, was der Kü­chen­­chef da gebündelt hatte, dieser zweite Versuch würde das Original banalisieren.

Mir blieb nichts übrig, als begeistert zu sein über die Perfektion, mit der hier die bunte und scheinbar wahllose Vielfalt einer Logik folgt. Es ist die Logik der modernen Küche.

Worin besteht diese Logik?

Sie unterscheidet sich in Nichts von der Logik jeder guten Küche, egal ob alt oder jung. Es muss gut schmecken.

Das ist der entscheidende Punkt, der aus der Uranspaltung erst die Atombombe möglich macht.

Das ist auch die entscheidende Qualität der Küche des Markus Arnold. Alles was dieser Tausendsassa sich hat einfallen lassen, um seine (ziemlich teueren) Menüs unverwechselbar der Avantgarde­kü­che zuzuordnen, ist in geschmacklicher Hinsicht so hieb- und stichfest gemacht, als habe Markus Arnold sein Rüstzeug bei Hae­berlin oder Wohlfahrt gelernt.

Der Rest unserer Menüs ist damit schon beschrieben. Alle enthielten einen Überraschungsmoment, ob das Heilbuttstücke waren, die er mit gemahlenem Räucherspeck bestäubt hat, eine Taube aus der Bresse, die nur aus zwei Bruststreifen bestand, welche fast zu schade waren, um zerkaut zu werden, oder ein grünes Ei als Dessert, das durch einen energischen Schlag mit dem Löffel zersprang und seinen süßen Inhalt auf dem Teller ausbrei­tete – alles Kunststücke, die albern wären, hätte nicht jedes Detail einen so delikaten Geschmack gehabt.

Dieser zurückhaltende junge Küchenchef über den Dächern von Bern demonstriert, dass sich moderne Küche sogar als Kinderspiel­zeug darstellen lässt, wenn sie nur einen logischen und unwider­steh­lichen Geschmack hat. Hervorragende Weinberatung.

 

(„Meridiano“, Kornhausstrasse 3, T: +41-(0)31.339.55.00)

 

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  1. Christine |

    Sehr geehrter Herr Siebeck,
    seit etwa 30 Jahren bewundere ich Ihre kenntnisreichen, stilistisch stets exzellenten Kolumnen. Hier jedoch stiess mir zum ersten Mal eine Schlussfolgerung sauer auf: Auch wenn es der „Logik der modernen Küche“ entspricht, dass es „gut schmecken“ soll, darf man nicht vergessen, dass diese Köche ihre diversen Emulgatoren, Geschmacksverstärker und Aromen direkt von der chemischen Industrie beziehen. Man kann diese „Mittelchen“ inzwischen auf jedem Großmarkt und bei Internet-Versendern besichtigen; es sind dieselben Substanzen die Hans-Ulrich Grimm, Udo Pollmer, Bernd Ubbenhorst und viele andere regelmäßig und vollkommen zu Recht in ihren Büchern anprangern.
    Vieleicht schmeckt das Resultat in Bern wirklich gut. Dennoch frage ich mich, ob die Eroberung der gehobenen Gastronomie durch die Chemie-Industrie wirklich eine positive Entwicklung darstellt.Ich möchte diese Mixturen nicht essen müssen. Und Amuse-gueules von der Hand lecken? Da stellt sich doch die Frage, wo Gäste demnächst überall noch die Zunge hinstrecken müssen.

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