DINNER FOR FIVE

Heute steht in der Zeitung, dass Dorothea Tanning gestorben ist, die letzte Frau von Max Ernst. Sie war 101 Jahre alt und hat für mich gekocht.

Das ist nun 51 Jahre her. Dass ich mich noch heute daran erinnere, liegt nicht am Essen. Das war – so weit ich mich erinnern kann – ein komplettes Abendessen; das Hauptgericht bestand aus Lammfleisch. Dazu tranken wir eine Flasche Sancerre. Wir – das waren meine damalige Frau Erika, Dorothea Tanning, Max Ernst und ich. Er war es, dem wir diesen eindrucksvollen Besuch in seiner Pariser Wohnung in der rue de Lille verdankten. Erika und ich hatten ihn in Tours auf einem Kurzfilmfestival kennengelernt, dem er eine Skulptur gestiftet hatte, eine Art Oscar für den besten Kurzfilm des Jahres.

(In jenem Jahr nahm Polanski die Trophäe mit nach Hause für sein geniales 9-Minuten-Drama „Le gros et le maigre“, das ich begeistert mit Becketts Stücken verglich, worauf sein Landsmann Lenica neidisch zischte: ‚Der weiß doch gar nicht, wer Beckett überhaupt ist!‘. Im folgenden Jahr ging der Preis an Lenica.)

Die Einladung Max Ernsts, ihn in Paris zu besuchen, war für kunstinteressierte junge Leute ein aufregendes Erlebnis. Wir sahen die Bilder, mit denen er sich umgab, als befänden wir uns in einem Privatmuseum. Viele waren noch nicht fertig wie „Die Mövenschule“ und andere in der Scheibenwischertechnik gemalte Werke, wie er es nannte.

Von Dorothea Tanning war, soweit ich mich erinnern kann, kein Bild zu sehen, dafür aber mehrere Werke seiner Kollegen (Miro, Tanguy, Dali), und Dada-Max erzählte zu allen einige Anekdoten.

Vor dem Essen gab es eine leicht alberne Einlage. Unsere Gastgeber besaßen einen Hund, eines von diesen langhaarigen Kleintieren, deren Ohren den Boden berührten, wenn sie aufrecht standen, was dieser Schoßhund offenbar nur ungern tat. Also musste Dorothea ihn in den Arm nehmen, damit er einigermaßen aufrecht stand, während Max eine Schallplatte mit einem aktuellen Schlager auflegte, zu dessen Refrain „Baby, let your hair hang down“ das vierbeinige Baby brav den Kopf nach vorne warf, worauf seine Haarpracht dem gesungenen Wunsch folgte. Der Hund wiederholte seine Dressur mehrmals an der richtigen Stelle des Songs, was die beiden Künstler ungeheuer amüsierte.

Zum Essen tranken wir eine Flasche Sancerre. Ich weiß nicht, ob ich es gewagt hatte, diese unorthodoxe Kombination zum Lammfleisch in Frage zu stellen, wahrscheinlich nicht; dazu war mein Respekt vor Max Ernst zu groß. Jedenfalls schwärmte er von diesem Wein, weil es ein Loirewein war, also aus der Landschaft stammte, in der er in jenen Jahren seinen Wohnsitz hatte (in Huismes) und die er, nach seinen Worten, sehr liebte. Schon vor dem Essen hatte er auf eins seiner später sehr bekannt gewordenen Bilder aufmerksam gemacht, „Jardin de France“ betitelt, wie die Region an der mittleren Loire auch genannt wurde. Es sei die Übermalung eines Bildes von Franz Stuck, behauptete er, und tatsächlich sah man an mehreren Stellen, die er nicht übermalt hatte, die typische fette Schlange, die sich bei Stuck gerne an sündige Frauen schmiegt.

Um das Glück seiner jungen Besucher voll zu machen, lud Max Ernst uns für den nächsten Tag zum Mittagessen ins „Le Voltaire“ ein, ein damals ziemlich elegantes Restaurant am gleichnamigen Kai.

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