Zuerst waren sie ein schöner Anblick, die im kalten Treppenhaus auf den Stufen gestapelten Süßigkeiten. Stollen, Printen, Früchtebrot, Butterkekse, Bitterschokolade, die Ingwerplätzchen der Nachbarin, die meisten liebevoll verpackt und daher nicht bestimmbar, ob es sich um Marzipan, Pralinen oder Mandelkroketten handelt. Weihnachtliche Versprechungen, von Gönnern ins Haus geschickt oder vorsichtshalber von Madame selber gekauft, damit am deutschesten aller Feste auch nicht eine Kalorie fehle.
Mit der Zeit, als der Haufen der Päckchen und Pakete immer größer wurde, beunruhigte mich sein Anblick mehr und mehr.
Mit dem hier gestapelten Nährwert hätte Robert Scott, dessen Todestag sich jetzt zum hundersten Mal jährt, nicht in der Antarktis verhungern müssen. Es wären ihm von den Cognacbohnen, den Rumkirschen und Schokonüssen noch genügend übrig geblieben, um den Südpol vor Amundsen und die Stabilität des Euro vor Merkel zu erreichen.
Als das süße Lager in unserem Treppenhaus für mehrere Expeditionen gereicht hätte, egal wohin, einschließlich einer Reise zum Mars, befiel mich Panik. Das junge Volk, das traditionsgemäß von den Eltern vorbeigeschickt wird, mag Süßigkeiten nur, wenn sie digitalisiert sind und ‚Apple‘ draufsteht. Also bleiben sie auf mir sitzen, die Joule und Kilokalorien, morgens, mittags und abends wird mein Essen nur aus Dresdner Stollen und Designerschokolade bestehen, aus handgerollten Lollipops, aus Zimtsternen und Spekulatius. Und um das alles runterzuspülen, bedarf es einer Kiste Banyuls. Das Ergebnis wäre eine hysterische Badezimmerwaage und eine ruinierte Figur.
An diesem Punkt meiner Überlegungen angekommen, beschloss ich Diät zu leben. Jedenfalls so lange, bis die Verfallsdaten der süßen Dickmacher mir signalisieren, dass es Zeit sei, sie ins Altersheim zu schicken.
Deshalb habe ich gestern nur 2 Scheiben gegrilltes Graubrot und dazu 200 g Jogurt sowie ½ l schwarzen Tee mit wenig kalter Milch (zum Abkühlen) gefrühstückt. Mittags einen Salat mit Roter Bete und Äpfeln, Nussöl vermischt mit Walnüssen und einigen Stückchen Hering (sauer eingelegt).
Das Abendessen bestand wie schon das Frühstück aus gegrilltem Graubrot (1 Scheibe), danach aß ich noch 2 geschälte Äpfel der Sorte Estar. Insgesamt ganz lecker die Magerkost.
Ich ging hungrig zu Bett (also schlechtgelaunt), schlief aber gut und hatte kaum Appetit beim Frühstück. Auch das Mittagessen entsprach der einmal gewählten Linie: Chicoree mit Äpfeln, getrockneten Aprikosen, Cayenne, 1 TL Orangenmarmelade, in Butter und Weißwein gedünstet. Dazu ca. 150 g confierter Thunfisch. Und auch hier: kein Wein. Abendessen wie am Tag vorher.
Am dritten Tag rückte mir die Badezimmerwaage den Stuhl persönlich an den Esstisch. Meine Umgebung nahm Haltung an, wenn ich das Esszimmer betrat, der Kuckuck in der Wanduhr intonierte „When the saints come marching in…“, und der Teppich glättete seine Falten vor meinen Füßen. Ich war gerührt, auch wenn mir der Magen knurrte.
Schon bald plagten mich Halluzinationen von Roquefortsemmeln und Sauerkrautgebirgen, und als mein Kühlschrank mich am hellen Tage vor seiner Tür kauernd fand, war dem Ärzteteam der Burg klar, dass meine Leidenszeit zu beenden sei. Madame schaufelte mir den Zugang zum Kalorienberg frei, und ich richtete ein Blutbad unter dem süßen Zeugs an. Mein Gott, war das schön! Eine Pfälzer Rieslaner Beerenauslese vom Weingut Karl Schäfer und eine Flasche Banyuls von Dr. Parcé mussten ebenfalls dran glauben. Meine Lebensgeister meldeten sich zurück, so dass ich schon am nächsten Tag den Zug nach Hamburg besteigen konnte, um an der Weihnachtsfeier der ZEIT teilzunehmen. Nicht dass ich hoffte, dort auf den ungegelten Freiherrn mit seinen Anhängern aus Guttenberg zu treffen – ihren ersten Parteitag werden sie ja wohl im Oberfränkischen abhalten und nicht im Schatten der Elbharmonie – aber bei solchen Ereignissen gab es immer ganz leckere Canapées, jedenfalls so lange Elke Bunse dafür verantwortlich war.