KLEINE GASTROSOPHIE

Es ist keine Kunst, der bekannteste Gastrosoph zu sein, wenn man eine so griffige und zitierfähige Formulierung wie „Der Mensch ist, was er isst“ in die Welt setzt. Zumindest in unseren Tagen ist dieser Satz häufiger zitiert worden als alle anderen Plattitüden des Zitatenlexikons und schlug sogar„Nach dem Spiel ist vor dem Spiel “, diesen ödesten aller bequemen Konfektionssätze.

So hat Brillat-Savarin es geschafft, der Schiller unter den Gas­trosophen zu werden.

Unser Marbacher Freiheitsdichter wiederum hat sich beim Dichten als leidenschaftlicher Genussmensch zu erkennen gegeben. Die Äpfel in seiner Schublade lassen keine andere Deutung zu. Wer bekennt, ihren süßlich-degenerierten Geruch zur Inspiration zu benötigen, bewegt sich auf dem gleichen artistischen Hochseil wie der Marquis de Sade und Joachim Ringelnatz, denen es angesichts anrüchiger Bilder gar nicht genussvoll genug zugehen konnte.

Das Bekenntnis „Nur zu, beim Essen kann mich gar nichts stören,“ mit dem Ringelnatz „Die Riesendame der Oktoberwiese“ in die Geschichte des Essens einführte, gehört jedenfalls in die Oberliga der einprägsamen Dauerlutscher: „Nur zu,  beim Essen kann mich gar nichts stören“

Denn der ist kein Genießer, der sich bei einer Platte Austern stören ließe, egal wodurch und von wem. Es wäre Aufgabe eines künftigen Gastrosophen herauszufinden, wie weit die Störungsanfälligkeit einer kopulierenden Dame bei minderwertigen Speisen zunimmt *), oder ob es sich gleich bleibt, ob sie dabei Austern schlürft oder ein Margarinebrot futtert.

Der verehrte Kollege Curnonsky könnte dazu sicher eine verbindliche Auskunft geben; denn er kannte sich in all diesen Dingen aus. Aber auch er hat es vorgezogen, die Welt, in der die Grobschmecker mehr und mehr den Ton angeben, zu verlassen.

Mehr und mehr ist ein Euphemismus. In Wirklichkeit ist mehr nicht möglich. Sie überschütten uns mit Lappalien, die längst zu Banalitäten geworden sind. Kein Fernsehtag vergeht, an dem wir nicht zusehen müssen, was wir bereits tausendmal gesehen haben, und wovor sich kein Fernseh-Intendant zu fürchten scheint: die Zurschaustellung eines naiven Küchenchefs, welcher glaubt, dass seine Versuche, Zwiebeln, Lauch und Gurken klein zu hacken, noch irgend jemanden interessieren könnte.

Schlimmer noch: Intendant und Koch sehen sich als Aufklärer einer Nation, die nur aus Ignoranten besteht, welche noch nie in ihrem Leben einem nuschelnden Koch bei Karottenschneiden zugesehen haben.

Deshalb werden wir 24 Stunden täglich mit ständigen Wiederholungen der Trivialküche zwangsernährt. Deshalb erscheinen auch in den Zeitungen Tag für Tag seitenlange Berichte über die Herstellung von Saucenfonds, worin die Hausfrau aufgefordert wird, 5 Kilo Knochen zu kaufen, diese zusammen mit dem üblichen Suppengemüse aufzusetzen und weitere Anweisungen unter dem beliebten Portal www.der­menschistwaserisst.de nachzulesen.

Wer diesem teuflischen Rat folgt, wird schlagartig traumatisiert. Denn der Klick auf die Webseite löst eine Lawine von Rezepten, Diätanweisungen, Restaurantempfehlungen und Werbespots aus, die kein Mensch in seinem kurzen Leben ertragen kann, wenn er nicht wie Siegfried mit Drachenblut immun gemacht wurde gegen Schwachsinn, Falsifikate, Obskurantismus und Maggi. Zeitgenössische Kritiker befolgen das erste Gebot der Verlage: ‚Du sollst deine Leser in der Überzeugung bestärken, das sie sind, was sie essen.’ Auch wenn sie geklonte Pizza mampfen.

Wer den Gourmet-Wahn überleben will, darf sich nicht einmal für das Kleingedruckte interessieren. Er unterschreibt keinen Ehevertrag, mietet keine Wohnung, akzeptiert kein Testament, auch wenn es ihn bevorzugt. Er hockt einsam auf einem Baum, knabbert Nüsse und Karotten, lauscht dem Gesang der Vögel, kümmert sich nicht um die Baustelle in der Nachbarschaft (Erweiterung der Starbahn für Flüge nach Südostasien), ignoriert das Eat-Art-Festival in der Landeshauptstadt und auch die Ökomesse (dieselben Kartoffeln wie im Jahr zuvor), und benutzt nicht einmal eine Tageszeitung zum Fischeinwickeln, weil er nicht lesen will, wie die Hausfrau vermittelst freilaufender Kohlrabi aus der biologisch-dyna­mi­schen Tiefkühltruhe indoktriniert wird, damit sie in den Chor der Konsumenten einfallen kann, und das kleingedruckte Motto aller Glücklichen mitsingen kann: Der Mensch ist, was er isst.

*) Joachim Ringelnatz: „Und auf einmal steht es neben dir“, Henssel Verlag, Seite 250.

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