Charlotte Roche würde den Bocksbeutel einen Handschmeichler nennen. Aber nicht deshalb ist die ungewöhnliche Form für eine Weinflasche bei deutschen Zechern nur mäßig beliebt. Die meisten Weinfreunde sind weniger prüde als praktisch.
„Eine normal Flasche kann man besser ins Regal stellen“, glauben sie. „Warum legen sie sie dann nicht? Mit den modernen Schraubverschlüssen ist das nicht mal ein Problem, wenn die Flasche bereits geöffnet war,“ gibt Frau Geier zu bedenken. „Wir werden doch nicht eine uralte Tradition aufgeben, nur weil es Leute gibt, die eine Weinflasche kaum von einer Coladose unterscheiden können.“ Frau Geier lebt in und für die Welt der fränkischen Bocksbeutel, nämlich im Weinverkauf des Juliusspitals in Würzburg. Unter diesem Namen fingiert das größte Weingut der Region, außerdem ein großes Krankenhaus (ebenfalls Jahrhunderte alt) und eine Weinstube, wo ich gleich Blaue Zipfel essen werde. Jetzt aber stehe ich neben Frau Geier und vor einem halben Dutzend geöffneter Flaschen. Und während wir noch die üblichen Höflichkeitsfloskeln austauschen und ein paar Bemerkungen über Weintrinkner und ihre Vorurteile machen (Siebeck: ‚Es gibt keine Spargelweine, keine Sommerweine und keine Weine für den Balkon, sondern nur trinkbare und untrinkbare Weine.‘ Geier: ‚Ein Wein unter 6 Euro kann nie und nimmer einer großer Wein sein.‘), kann ich den Blick nicht von den geöffneten Flaschen wenden. Da bin ich wie ein alter Knacker am Strand, der seine Augen nicht von den Badenixen lassen kann. (Meingott, ich bin ein alter Knacker!)
Endlich greift Frau Gaier zur ersten Flasche und füllt die Gläser: „Eine Cuvee, gegen den Durst oder als Aperitif!“ Aperitif ist richtig, denke ich angesichts der Blauen Zipfel. Aber dieses halbe Glas macht meinen Durst nur noch wilder, da unterscheide ich mich nicht von Frau Hoffmann, die nach dem ersten Bissen von der Hühnerleber keineswegs satt war, sondern gierig nach mehr auf den Küchentisch sprang.
Da ich nun mal ein alter Knacker bin, springe ich hier im Juliusspital nicht, sondern warte auf den zweiten Probeschluck. Es ist ein Silvaner Kabinett vom Julius-Echter-Berg, eine der besseren Lagen des Weinguts. Ich probiere noch diese und jene Flasche des Jahrgangs 2010 und bestelle auch noch einen Karton 2009 Würzburger Abtsleite Traminer, trockene Spätlese, eine Rarität des Hauses, welche ich zu manchen Gerichten lieber trinke als einen Rotwein. Übermorgen stünden die Weine vor meiner Haustür, verspricht Frau Geier, und ich weiß aus Erfahrung, dass ich mich darauf verlassen kann.
Bis zur Weinstube sind es nur 100 Meter. Holztische, gemäßigte Folklore an den Wänden, die Kellner in Winzerschürzen. Die Mittagsgäste sind bereits verschwunden und mit ihnen die Waller, Welse, Aale und die anderen Fische, für die die Weinstube bekannt ist. Ebenfalls regional und ebenfalls eine Spezialität sind die Blauen Zipfel. Sie sind weiß, wie die Münchener Weißwürste, nur dünner, und liegen in einem säuerlichen Zwiebelsud, so dass man keinen süßlichen, bayerischen Senf dazu essen muss. Dem Hl. Julius sei Dank!
Passend dazu wäre eigentlich jeder trockene Silvaner des Spitals, überlege ich noch. Dann fällt mir ein, Dass ich noch nach Stuttgart will, wo eine Tafelrunde auf uns wartet, und bestimmt schon eine Batterie Flaschen aus Württemberg kalt gestellt wurde. Ah, die gutem Kameraden Dautel, Heidle Adelmann und wie sie alle heißen, die im Schatten eines anderen Vorurteils ihre Weine vinifizieren, welches lautet: die produzieren doch bloß Trollinger.
Das ist ebenso falsch, wie die parodierte südwestliche Redensart „Wir trinken alles, solange es Gutedel heißt.“
Darum werde ich mich später kümmern.
Fotos: Barbara Siebeck
Verehrter Herr Siebeck,
auch in München würde kein Mensch, der noch halbwegs bei Verstand ist, zu den Bratwürsten, aus denen die Blauen Zipfel zubereitet werden, süßen Senf essen. Ganz unabhängig davon, ob sie nun „blau“ oder „gebraten/gegrillt“ sind.
Freundliche Grüße
matthias41
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