DIE PFALZ

Wer das alte Deutschland kennenlernen will, also unser fröhlich versoffenes Mittelalter oder unseren frommen und versoffenen Barock, oder die bigotte und blutige Renaissance, wenn nicht gar das feuervergoldete und blutige Kaiserreich, also von Wotan den Wüterich über Hans Sachs zu Otto von Bismarck; wer die Duftmarken noch schnuppern will, die uns von der Geschichte hinterlassen wurden, der fahre entweder nach Main-Franken oder in die Pfalz.

Was – fragen jetzt vorwurfsvoll die Patrioten anderer Regionen – soll denn dort anders sein als bei uns in Hessen, in Baden, in Thüringen und in Holstein? Blühet nicht auch bei uns das Fachwerk unterm Dach? Nähren sich unsere fetten Füchse nicht auch aus der Mülltonne, wie bei euch Unter den Linden? Schließlich zeigen wir sogar den Tintenfleck, den Luther hinterließ, als er das Tintenfass dem Teufel hinterher warf.

Ist ja wahr, jede Landschaft kann beweisen, dass ihre Bewohner schon vor mindestens tausend Jahren von den Bäumen geklettert sind. Überall stehen Beweise dafür, Schlösser, Felsen, Türme, Klöster, Kirchen, Schlachtfelder, mit Wegweisern ausgestattet und gebührenpflichtigen Parkplätzen.

Jeder kennt die historischen Reliquien, den Kölner Dom, das Brandenburger Tor, und deshalb empfehle ich für den kleinen Geschichts­unterricht die Pfalz und Main-Franken. Nicht die Würzburger Residenz und den Mainzer Dom, sondern Ochsenfurt und Deidesheim.

Am Main war ich vor einer Woche, jetzt sitze ich im Deidesheimer Hof, dem ältesten der besseren Hotel-Restaurants an der Pfälzer Weinstraße. Richtig: ohne Wein geht bei mir nix, gar nichts. Und so habe ich ein paar Kartons „Novemberlese Silvaner“ von Meinzinger in Frickenhausen gebunkert, ein voluminöser, alkoholreicher Wein, der bei mir in jedem Fall dekantiert wird, bevor er auf den Tisch kommt, wo er die Stelle von großen Chardonnays einnimmt, die ich mir normalerweise nicht leisten kann.

Doch das ist nicht der alleinige Grund, warum ich gerne an den Main und in die Pfalz fahre. In diesen Regionen lebt unsere Tradition noch ohne Parkplätze (was einen Autofahrer in Neustadt a.d.W. zur Verzweiflung treiben kann), wird der Wein so vinifiziert, wie er den Einheimischen schmeckt, und die richten sich nicht immer nach der Mode.

Das trifft auch auf den größten Teil der Wirte zu. Der Deidesheimer Hof hatte sogar seine eigene Küchenmode hervorgebracht, da­­mals, als Kanzler Kohl Gorbatschoff, Mitterand und Margret Thatcher, sowie jeden, der sich nicht wehrte, zum Saumagen Schmaus in die urige Sankt Ullrich Stuben mitbrachte. Manfred Schwarz war damals der Küchenchef, der den Vorlieben seines Regierungschefs folgend deftige Pfälzer Kost verfeinerte und populär machte. Gleichzeitig mit der Popularisierung des Saumagens begann das Verlangen nach der Regionalküche.

Und es begann Deutschlands kulinarische Aufrüstung Teil 2. Dafür kann man zwar dem Küchenchef gratulieren und dem Ex-Kanz­ler. Aber andererseits war die Zeit einfach reif für eine Abkehr von den Experimenten der Haute-Cuisine. Sogar der Frankfurter Bannerträger des gastronomi­schen Avantgardismus scheint die Lochstickerei der Kreativköche leid zu sein. Er wird immer häufiger in bürgerlichen Gasthäu­sern gesehen, wo die Redundanzesser sich die Klinke in die Hand geben, und die Texturen hinterm Klavier verstauben.

Die Veränderungen in der Pfalz sind nicht zu übersehen. Einige Winzer zählen heute zu den besten des Landes (Knipser in Laumersheim, Kuhn in Laumersheim, Rebholz in Siebeldingen, Koehler-Ruprecht in Kallstadt, Christmann in Gimmeldingen) und – wie am Main und am Oberrhein – ist es kein Zufall, wenn man in Dörfern eine authentische Küche findet, deren Wirken und Bedeutung zu der Spitzenstellung beiträgt, die Deutschland inzwischen im internationalen Wettbewerb einnimmt.

Wobei man nie aus den Augen verlieren sollte, dass sich der kulinarische Genuss auf keinem sehr hohen Niveau abspielt, dazu haben wir uns nicht weit genug von der Hausmannskost entfernt und den Verführungen durch manipulierte, massenproduzierte Fabriknahrung nicht energisch genug widerstanden.

So bin ich nach Neustadt mit nicht sehr hohen Erwartungen gefahren. Ich hatte von einem „Markt der Genüsse“ gehört, der einmal im Jahr im Ortsteil Mussbach im Herrenhof abgehalten wird. Letzterer ist eine weitläufige Burganlage, ideal für Ritterspiele und ähnliche Familienfeste. Dem Zug der Zeit folgend boten Kleinstproduzenten ihre Produkte an, überwiegend Marmeladen, Pestos, selbstgezogene Kräuter, Kuchen, Brote, Saft und alles, von dem das Publikum glaubt, Gesundheit pur zu schlucken. Also viel Idealismus und viel Gedöns um sehr bescheidene Produkte; größere Anstrengungen bei der Verfeinerung des Üblichen habe ich nicht feststellen können.

Vielleicht ist die Wirkung solcher Konsumententreffs nicht anders, als sie es schon vor 500 Jahren war und entspricht einer Kochshow im Fernsehen. Also minimaler Gewinn an Wissen und Unterhaltung. Aber immerhin ist die Welt der Supermärkte aus­­ge­klam­mert, und das mag für viele ein neues Erlebnis gewesen sein. Wenn wenigstens ein Produzent (z.B. ein Winzer oder Bäcker) dabei gewesen wäre, dessen Produkt die enorme Fallhöhe zum alltäglichen Erzeugnis demon­­­­striert hätte.

Im benachbarten Deidesheim zeigt sich, wie wichtig solche Unterschiede sein können. Dort ist es das elegante Hotel-Restaurant „Ketschauer Hof“, das von einem ehrgeizigen Unternehmer aus den beiden Renommier-Weingütern Bassermann-Jordan und Reichsgraf von Buhl gebildet wurde. Hier griff man von Anfang an nach den Sternen. In Deutschland ist das heute ganz allgemein ein Erfolgsrezept; ja doch, soweit haben wir es gebracht. Jedenfalls in Landsteilen, wo der Mittelstand nach Möglichkeiten sucht, sein Geld in gepflegten Lokalen und verfeinertem Essen zu investieren. Wenn man an einem Wochenende des nachts von der Terrasse des Deidesheimer Hofs die schweren Limousinen beobachtet, die über die schmalen Straßen des Winzerdorfes rollen, ist einem um die Konjunktur nicht bange. Zur gleichen Zeit sitzen im Ketschauer Hof die Herrschaften und ermutigen die Winzer, weiterhin große Gewächse (zu großen Preisen) zu produzieren, was wiederum dem Niveau unserer Weinwirtschaft nützt, welche einen qualitativen Höhepunkt erreicht hat, der in den letzten hundert Jahren nicht für möglich gehalten wurde.

Die Küche dieser vorzüglichen Adresse entspricht ohne Abstriche der Drei-Stern-Kategorie – von gestern.

Alles ist tipptopp, makellos die Aromatisierung der Speisen, ihre Zubereitung einwandfrei, die Produkte sind handverlesen. Doch den erfahrenen Esser erinnert das alles an den Küchenstil der letzten fünf Jahre. Das heißt, die Teller sehen aus, als hätte ein Kind seinen Spielbaukasten darüber ausgeleert, all die kleinen Figurinen, Knöpfe, Würfel, Hütchen, Kugeln in blau, rot, grün, lila, rosa, gelb, bekrümelt und bestäubt, glasiert und gebügelt, parfümiert und gepfeffert, hart und breiig, sorgfältig in langen Minuten von geschickten Fingern mosaikartig montiert und unter sich ein Stück des Namensgebers begrabend: Kalbszunge oder Hummer oder Tartar von Fafnir, gewürzt mit einem Blatt der nordischen Yggdrasil.

Ich will nicht in Frage stellen, dass einige der größten Köche ihren dritten Stern genau solchen Arrangements verdanken. Aber heute will niemand mehr mit einem Jackson Pollock auf dem Teller erwischt werden. Die dritten Sterne von morgen werden für andere Gags vergeben.

Dass die Küche des Deidesheimer Hofs sich in dieser Richtung Hoffnungen machen kann, bezweifele ich. Dafür ist sie zu bodenständig, und gerade das macht sie so sympathisch (Chefkoch Neugebauer). Ein „Pfälzer Tapas“ genannter Teller enthält von der Blutwurst bis zum Saumagen in kleinen Portionen alles, was der Reisende sich vorstellt, wenn er hier einkehrt. Das ist genau so aufwändig wie die in der Edel-Gastronomie übliche prätentiöse Abfolge von „Grüßen aus der Küche“, es bietet ebenfalls einen Querschnitt durch die lokalen Spezialitäten und ist preiswerter.

Die Idee, einen informativen Überblick in Form eines Tellergerichts zu bieten, ist so genial, dass ich mich nicht wundern würde, demnächst auch in anderen Landesteilen ähnliche Ideen realisiert zu finden. Also die Holsteinschen Tapas, die Westfälischen Tapas, die Sächsischen und die Bayerischen Tapas. Bei entsprechender Sorgfalt beim Abschmecken, wäre das vielleicht sogar ein Zugang (Fußweg) in den Bereich der Sternenküche. Sehr weit davon sind unsere wackeren Wirte ohnehin nicht entfernt.

6 Comments | Hinterlasse einen Kommentar

  1. Ingo Ließegang |

    Nun, die Idee mit den regional geprägten Tapas ist nicht ganz neu, das gibt’s in Graz schon seit einigen Jahren hier: http://www.der-steirer.at/de/essen/steirische_tapas.html

    Wobei ich diesen Ansatz auf jeden Fall gutheiße!

  2. Chiton |

    Die Weinbesprechungen scheinen zu steigen. Vielen Dank. Bitte noch mehr. Ich zehre noch heute von Ihren Besprechungen in der Zeit, die sich über Condrieu, die deutsche Weinszene etc erstreckt hatten.

  3. Ein Berliner |

    Aber Herr Siebeck, in der Pfalz ist es sehr leicht, Produkte zu finden, die die Fallhöhe zum Alltäglichen demonstrieren (Bäckerei Kapp und andere). Ebenso scheint mir dort die Dichte an guten Restaurants höher als anderswo. Im übrigen sollten Sie beim nächsten Mal evtl. in der Weinstube Brand in Frankweiler einkehren. Keine große Küche, aber einen Besuch wert und wohl ein besseres Ausflugslokal als die Hamburger.

  4. Thomas Lederer |

    Lieber Herr Siebeck,

    mir scheint Sie haben Herrn Dollase in der PFalz getroffen. Schade,dass ich bei diesem Gipfeltreffen nicht anwesende sein konnte.

    Gruß
    Ihr Herr L.

  5. Axel Geertz |

    Hallo, Herr Siebeck,

    vor ca. 3 Jahren habe ich Ihr Lob über den Ketschauer Hof gelesen und dann dort einige Male sehr gut gegessen. Am 24.05.2012 war ich nun mit Gästen wieder dort und teile in vollem Umfang Ihre jetzige Meinung zu diesem Haus. Vorerst dort nicht wieder!

    Mit freundlichen Grüßen

    Axel Geertz

  6. Roland Wendt |

    herr siebeck,

    beim „Deidesheimer Hof“ mit dortiger st.urbanstube folge ich Ihnen aus ganzem Herzen!

    Haben Sie den „Schwarzen Hahn“ im Kellergeschoß bewußt unerwähnt gelassen oder nur übersehen?

    Es grüßt aus der herrlichen Kurpfalz

    rw

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