II.
Es gibt zweifellos Feinschmecker, die gerne früh am Morgen aufstehen und nichts dagegen haben, noch nach Mitternacht Kasse machen, wenn es im eigenen Laden geschieht. Die werden sich durch meine Schilderung von den Pflichten eines Wirtes nicht beeindrucken lassen. Wer darüberhinaus auch keinen Horror davor hat, bei seiner Bank große Schulden zu machen, der lässt sich so leicht nicht davon abbringen, ein Lokal zu pachten oder eine Hütte zu kaufen, um seine Immobilie in ein Restaurant zu verwandeln, das spätestens in zwei Jahren mit dem ersten Michelinstern geschmückt wird. Wie er hofft.
Tollkühne Optimisten braucht das Land, warum würden sonst so viele die Piraten wählen?
Es ist nur folgerichtig, dass jemand, der bei jeder leerstehenden Ruine daran denkt, diese in ein Kleinrestaurant zu verwandeln, genaue Vorstellungen hat, wie es denn aussehen soll. Dafür gibt es zwei Muster.
Beide sind am besten in Paris zu besichtigen, wie in einem Jahrhunderte alten Katalog für Kneipeneinrichtungen. Keine andere Stadt bietet Beispiele der einen oder anderen Art von Gastronomie in solcher Fülle.
Ich nehme an, dass bei meinen Lesern die Kategorie der Luxusrestaurants nicht an erster Stelle steht. Obwohl, das ist nicht zu bestreiten, ein frisch gebackenes gastronomisches Juwel, durchgestylt und technisch perfekt, schneller die öffentliche Aufmerksamkeit erregt als ein schnuckeliges Bistro. Aber wer sich das zutraut, wird sich ohnehin mit Designern, Rechtsanwälten, Bankern und prominenten Köchen beraten haben. Der wird die Frage, welche Länge die Tischdecken haben müssen, an professionelle Berater delegieren.
Mir geht es hier um die andere Kategorie, der meine Sympathie gehört. Es ist das in Marktnähe gelegene Bistro.
Ein Drei-Sterne-Essen im Luxushotel ist zweifellos ein exorbitantes Vergnügen, vergleichbar mit einem Abend in der Oper. Ich gestehe, dass es mir nicht wenig Spaß macht, diesen ungewohnten Luxus von Zeit zu Zeit zu genießen. Aber wirklich wohl ist mir erst im Bistro. Wo ich zwar wie in der Oper Ellbogen an Ellbogen mit andere Menschen sitze, allerdings unterscheidet sich die Geräuschkulisse wesentlich. Sänger und Musik kann ich mir meinem Geschmack entsprechend aussuchen.
Mit anderen Worten, ich sehe der aushängenden Partitur an, ob der Koch den richtigen Ton trifft, ob er meine Lieblingsnudeln im Repertoire hat und was der Spaß kosten wird.
Das ist das Stichwort für ein ganz wichtiges Detail meines Restaurants: die tägliche Speisekarte.
Dass sie täglich erneuert wird, ist selbstverständlich. Sozusagen eine vertrauensbildende Maßnahme. Auch wenn sie in einer Fremdsprache geschrieben sein sollte, sehe ich ihr an, was mich drinnen erwartet. Ist sie von der Sonne verblichen, hat sich gar eine sterbende Fliege hinter
die Glasscheibe gerettet, bleibt mir nur, ihr eine Blume nachzuwerfen und mich nach einem anderen Essplatz umzusehen.
Eine Speisekarte muss täglich neu geschrieben werden, um dem Gast zu signalisieren, dass hier mit frischen Produkten gekocht wird. Also keine vorbereiteten Menüs, keine eingefrorenen Fische und Steaks. Hat der Koch auch Innereien auf der Karte, bin ich fast beruhigt. Denn die lassen sich nur frisch zubereiten; außerdem muss er es können und wird es mögen, was für mich zwei Gründe mehr sind, seinem Etablissement einen Besuch abzustatten.
Besitzt der Koch die notwendige Geschmackssicherheit und verfügt Madame über ein verführerisches Lächeln, wenn sie die Teller an den Tisch bringt, sind bereits zwei Eigenschaften genannt, die das neue, kleine Restaurant populär machen. Dafür gibt es ein frappierendes Beispiel, dass viele meiner Leser kennen dürften: La Merenda, das kleinste, primitivste und gemütlichste Bistro Europas in Nizza.
Nicht größer als eine Garage, Hocker statt Bänke, Sackleinen unter der Decke verdeckt gnädig, was man nicht unbedingt sehen muss. Es gibt praktisch nur zwei Weine, rot und weiß, und ein tägliches Stammgericht, dass sich, soweit ich weiß, in dreißig Jahren nicht verändert hat. Sowie noch drei, vier andere Gerichte. Schluss. Der Weg zur unterirdischen Toilette ist abenteuerlich, Creditkarten werden nicht akzeptiert, und einen Tisch zu reservieren wird durch das fehlende Telefon nicht gerade erleichtert. La Merenda ist jeden Mittag und Abend ausgebucht, weil die schlichten Gerichte, die Dominique Le Stang (der früher dem Hotel Negresco 2 Sterne erkocht hat) in seiner winzigen Kombüse herstellt, außerordentlich lecker sind.
Zweimal habe ich das Miranda während eines Urlaubes besucht. Das Essen ist wirklich unaufgeregt toll, aber die Enge und die geschilderten anderen Zutaten dieses Bistros sind gerade eben noch zu akzeptieren.Erstaunlich, dass sich trotzdem so viele Menschen einen Besuch dieses Unikats antun. Ich eben auch und fand es gelungen!
Ich freue mich zu lesen, dass auch Sie „Lieblingsnudeln“ haben. An anderer Stelle hatten Sie sich ja gerne mal abfällig über uns „infantile Nudellutscher“ geäußert. 😉
Wenn Pasta auch nicht zwingend in die Haute Cuisine gehört – in einer rustikalen Atmosphäre gibt es für den Hungrigen doch kaum etwas Schöneres.
Wahre Worte liber Herr Siebeck. Aber warum gibt es die „Merendas“ nicht auch hier in Deutschland, wo doch die Zahl der Sterne stetig steigt?
In der vergangenen Woche war ich im Merenda. Pestonudeln vorweg, Kutteln als Hauptgang, Ziegefrischkäse mit Olivenöl danach und schließlich Kirschen. Auf dem Hinweg hoffte ich auf Bellet, es gab Bellet. Alles war einfach und einfach perfekt. Einen Tisch für mich allein gab es nicht, also saß mir in Griffweite ein Schwede mit Lederhut gegenüber – gottlob war er ganz nett. Sobdald ich wieder in Nizza bin: La Merenda!